Toxische Positivität bei Endometriose: Positives Denken als Mittel und nicht als Ziel

Eine positive Einstellung kann im Leben viele Vorteile bringen, sowohl allgemein als auch speziell im Umgang mit einer chronischen Erkrankung wie Endometriose. Die Forschung zeigt zum Beispiel, dass ein optimistischer Blick in die Zukunft uns motivieren kann, aktiv zu werden, um unsere eigenen Lebensumstände zu verbessern. Darüber hinaus kann das Vertrauen darauf, dass bessere Zeiten kommen werden, unsere Widerstandsfähigkeit in schwierigen Zeiten stärken und eine schützende Wirkung gegen psychische Probleme haben.

Im Internet, in Büchern, in Workshops und in den sozialen Medien gibt es daher eine Fülle von Informationen darüber, wie man eine positivere Einstellung entwickeln kann. Auch in diesem Blog haben wir uns bereits mit diesem Thema beschäftigt, insbesondere im Zusammenhang mit dem Leben mit Endometriose. Dies hat sicherlich seinen Nutzen, da viele von uns eine Negativitätsverzerrung (oder auch Negativity Bias) haben: die Tendenz, negativen Informationen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als positiven. Diesen negativen Fokus zu erweitern und eine ausgewogene Sicht des Lebens anzustreben, kann eine Quelle der Kraft auf dem Weg mit Endometriose sein.

Eine Person bedeckt den Kopf mit einer Papiertüte, auf der ein lächelndes Gesicht abgebildet ist, als Symbol für toxische Positivität bei Endometriose.

Wenn Positivität toxisch wird

Das Streben nach Positivität birgt jedoch auch Gefahren, insbesondere dann, wenn es nicht mehr als Mittel zur Steigerung des Wohlbefindens, sondern als Ziel an sich betrachtet wird. Der Fokus auf positives Denken und das Streben nach Glück kann so stark werden, dass wir das Gefühl haben, negative Emotionen vermeiden oder unterdrücken zu müssen. Wenn dann noch Scham- oder Schuldgefühle aufkommen, wenn wir Schwierigkeiten haben und den Druck verspüren, unsere wahren Gefühle vor anderen zu verbergen, geraten wir in einen Bereich, in dem Positivität eher schadet als nützt. In diesem Fall spricht man von toxischer Positivität.

Die Realität ist, dass man sich nicht immer glücklich fühlen kann. Denk zum Beispiel an Momente, in denen du dich während deiner Periode trotz Schmerztabletten und Wärmflasche vor Schmerzen krümmst und nicht mehr weiterweißt. Oder an einen Arztbesuch, bei dem deine Beschwerden wieder einmal als übertrieben abgetan wurden, obwohl du seit Jahren ohne Erklärung damit kämpfst und sehr darunter leidest. Oder wenn du wieder einmal einen negativen Schwangerschaftstest in den Händen hältst, während Freund:innen bereits ihr zweites oder drittes Kind bekommen haben. In solchen Situationen, die bei Endometriose leider nicht selten sind, ist es ganz natürlich, sich traurig, wütend, besorgt oder enttäuscht zu fühlen. Manchmal ist es notwendig zu sagen: „Das ist wirklich schwer“ und weinen oder schreien zu dürfen.

Der Teufelskreis unterdrückter Emotionen

Wenn du stattdessen versuchst, deine Gefühle zu unterdrücken und dich mit positiven Affirmationen wie „Ich bin stark und kann alles erreichen, was ich will“ zu beruhigen, obwohl dies in krassem Gegensatz zu deiner erlebten Realität steht, kann sich das langfristig rächen. Aufgestaute Gefühle neigen dazu, wie ein dicker, schmerzhafter Pickel unter der Oberfläche zu eitern. Sie bleiben nicht unsichtbar, sondern kommen früher oder später zum Vorschein - oft in einer stärkeren Form wie Depressionen, Angststörungen oder sogar körperlichen Gesundheitsproblemen.

Warum negative Gefühle Raum brauchen

Negative Gefühle, wie sie oft genannt werden, sind zwar unangenehm zu erleben, gehören aber zum Leben dazu und spielen eine wichtige Rolle für unser seelisches Wohlbefinden. Emotionen wie Wut, Enttäuschung oder Scham signalisieren uns, dass etwas nicht in Ordnung ist und motivieren uns, Maßnahmen zu ergreifen, um unsere Situation zu verbessern. Wenn wir diese Gefühle ignorieren oder unterdrücken, bleiben wir länger als nötig in Situationen, die uns schaden, oder überschreiten unsere Grenzen.

Die Gefahren der Toxischen Positivität bei Endometriose

Speziell bei Endometriose kann toxische Positivität dazu führen, dass man Symptome herunterspielt, nicht mit anderen darüber spricht und nicht so schnell Hilfe sucht. Dies erschwert eine angemessene Behandlung und verringert die Chancen auf eine Verbesserung der Beschwerden. Der ständige Versuch, positiv zu denken, kann also auf lange Sicht schädlicher für die psychische und körperliche Gesundheit sein, als seine wahren Gefühle zu erkennen und zuzulassen, so unangenehm sie auch sein mögen.

Praktische Tipps: Raum für alle Gefühle

Wie kann man also eine gute Balance finden, in der Platz für die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen ist? Hier sind einige praktische Tipps, die dir dabei helfen können:

  1. Nimm deine Gefühle an, ohne sie zu bewerten

    Das Erste und Wichtigste ist, deine Gefühle so anzunehmen, wie sie sind, ohne sie als gut oder schlecht zu bewerten. Das bedeutet nicht, dass du in einer negativen Gedankenspirale gefangen bleiben solltest, aber du solltest ehrlich zu dir selbst sein, wie du dich gerade fühlst. Es kann befreiend sein, sich selbst zu sagen, auch wenn es nur in Gedanken ist: „Ich fühle mich sehr traurig/ärgerlich/beschämt und das ist okay“.

  2. Lerne aus deinen Gefühlen

    Anstatt deine Gefühle abzulehnen oder sie schnell durch positive Gedanken ersetzen zu wollen, versuche einmal richtig zuzuhören und herauszufinden, was sie dir sagen wollen. Was genau hat dich wütend gemacht? Worüber bist du traurig? Bist du vielleicht über deine Grenzen gegangen oder hast du unerfüllte Bedürfnisse?

  3. Übe Selbstmitgefühl

    Versuche, dir selbst gegenüber die gleiche Freundlichkeit zu zeigen, die du deinen Liebsten entgegenbringen würdest. Du verdienst es genauso wie alle anderen, Geduld und Nachsicht zu bekommen, wenn du eine schwierige Zeit durchmachst.

  4. Suche Kontakt zu Menschen, mit denen du gut reden kannst

    Es ist normal, dass du nicht mit jeder Person das Gefühl hast, persönliche Dinge teilen zu können. Die Reinigungskraft auf der Arbeit möchte nicht unbedingt erfahren, dass du enttäuscht bist, weil deine Behandlung noch nicht gut anschlägt. Aber es gibt vermutlich Menschen in deiner Umgebung, die dir gerne zuhören würden, wenn du dich ihnen öffnest, oder vielleicht ist eine Selbsthilfegruppe für Endometriose eine gute Möglichkeit für dich.

  5. Trau dich, offen und authentisch zu sein

    Es kann verlockend sein, deine Gefühle hinter einer Fassade von Positivität und einem Lächeln zu verbergen, besonders wenn du denkst, dass andere das von dir erwarten. Doch echte Stärke und tiefgehende Verbindungen mit anderen entstehen durch Authentizität – indem du dir erlaubst, du selbst zu sein und dies auch anderen zu zeigen, ohne Maske.

  6. Sag anderen, was du brauchst

    Als Menschen möchten wir anderen, die Schwierigkeiten haben, gerne Trost spenden, aber manchmal sind wir in unseren Reaktionen etwas unbeholfen. Deshalb kann es hilfreich sein, anderen zu erklären, was du gerade brauchst. Wenn du zum Beispiel merkst, dass es dich mehr belastet, wenn andere versuchen, dich aufzumuntern, kannst du sagen: "Es bedeutet mir viel, dass du versuchst zu helfen, aber es würde mir wirklich gut tun, wenn du einfach nur zuhörst und bei mir bist.

  7. Setze realistische Erwartungen

    Die Realität für viele Menschen mit Endometriose ist, dass man nicht immer so funktionieren kann, wie man möchte, und dass es bessere und schlechtere Tage gibt, je nach Symptomen. Wenn du akzeptieren kannst, dass du nicht immer dein bestes, produktivstes oder energiegeladenstes Selbst sein wirst, nimmst du dir viel Druck von den Schultern. Sei geduldig mit dir selbst.

  8. Begrenze die Nutzung sozialer Medien

    Viele Menschen zeigen in sozialen Medien nur ihre besten Seiten, was zu einem verzerrten Bild der Realität führen und dir das Gefühl geben kann, nicht gut oder glücklich genug zu sein. Frage dich selbst, was es mit dir macht, wenn du dir bestimmte Posts anschaust. Wenn du merkst, dass sie einen negativen Einfluss auf dich haben, überlege, deinen Konsum von sozialen Medien einzuschränken oder anderen Accounts zu folgen, die ein ausgewogenes und authentischeres Bild vermitteln.

  9. Suche professionelle Hilfe

    Wenn du merkst, dass dir diese Tipps nicht weiterhelfen und du anhaltende Schwierigkeiten hast, deinen Gefühlen Raum zu geben oder mit ihnen umzugehen, kann es hilfreich sein, therapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Du musst die Last nicht alleine tragen - Hilfe zu suchen ist ein Zeichen von Stärke, nicht von Schwäche.

Fazit: Emotionale Balance statt “Good Vibes Only”

Eine positive Denkweise kann helfen, widerstandsfähiger mit Endometriose umzugehen – doch sie wird problematisch, wenn sie dazu führt, Emotionen zu unterdrücken oder das wahre Selbst zu verbergen. Toxische Positivität, oder die Überbetonung von positivem Denken und Glück, ignoriert die Komplexität menschlicher Erfahrungen und Emotionen. Neben all den schönen und faszinierenden Aspekten des Lebens gibt es schließlich auch Schmerz, Enttäuschung und Schwierigkeiten. Herausforderungen wie zum Beispiel chronische Schmerzen oder Fruchtbarkeitsprobleme aufgrund von Endometriose verursacht lassen sich nicht einfach durch Optimismus “wegdenken”.

Wie bei vielen Dingen im Leben geht es auch hier darum, eine Balance zu finden, die es ermöglicht, sowohl das Gute und Schöne im Leben wahrzunehmen und zu genießen, als auch das Schwierige anzuerkennen. Manchmal ist das größte Zeichen von Stärke nicht ein erzwungenes Lächeln, sondern der Mut, die eigene Verletzlichkeit zu zeigen - sich selbst und anderen gegenüber.

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